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Agil werden durch Achtsamkeit

25.4.2018 | 8 Minuten Lesezeit

Einleitung

Agile Methoden sind in der Software-Entwicklung entstanden und gereift. Inzwischen breiten sie sich weit über diesen Bereich hinaus in andere Geschäftsfelder aus. Dabei steht man dort vor den gleichen grundlegenden Herausforderungen, die auch in der Software-Entwicklung noch nicht gemeistert sind. „Don’t just do agile – be agile!“ ist ein vielzitierter Satz: agile Methoden scheitern häufig, wenn die Gehirne der Menschen, die sie einzuführen versuchen, nicht die agile Mentalität verkörpern. Lediglich betriebliche Prozesse zu verändern, lässt agile Praktiken noch nicht ihre Wirksamkeit entfalten, „es macht nur die bestehenden Probleme so schmerzhaft sichtbar, dass man sie schwerer ignorieren kann.“ [Ken Schwaber] Dieser Artikel umreißt, warum wir unsere eigene, mentale Programmierung bewusst verändern sollten und wie sich dies durch die Praxis von Achtsamkeit (Mindfulness) und Emotionale Katas erreichen lässt, so dass wir wirklich „agil werden“.

Was ist eine agile Mentalität?

Laut dem Manifest für Agile Softwareentwicklung , woher der Ausdruck „agil“ in der IT stammt, konzentrieren sich Menschen mit agiler Mentalität besonders auf zwischenmenschliche Kommunikation; siehe die Schwerpunkte im ersten und dritten Wertepaar:

  1. Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
  2. Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
  3. Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
  4. Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans

Gemäß dieser relativen Werte wollen Menschen mit agiler Mentalität, „bessere Wege erschließen, indem sie [Arbeit] selbst tun und anderen dabei helfen„. (Im Original steht statt „Arbeit“ „Software zu entwickeln“.) Verankert im Tun statt im Denken ist die agile Mentalität keine blutleere Kopfgeburt. Sie ist das beständige Streben unser Zusammenspiel mit Kollegen, Kunden und uns selber in der täglichen Arbeit weiterzuentwickeln.

Eine agile Mentalität ist einfach, aber schwierig zu entwickeln.

Obwohl eine agile Mentalität ihrem Wesen nach pragmatisch ist, erfordert ihre praktische Umsetzung erhebliche Anstrengungen. Viele Menschen, die sich auf die agile Reise begeben, wurden in hierarchischen, autokratischen Systemen sozialisiert. Im Extremfall motivieren diese Systeme ihre Angehörigen dadurch, dass sie ihnen materielle Privilegien zukommen lassen und Macht über andere Menschen in diesem System verleihen. Es verläuft der Intuition zuwider, im Sinne einer agilen Mentalität eigenes, tief eingeprägtes Verhalten zu verändern. Eine schwere Krise mag Menschen dazu bringen, schmerzhaftes oder überholtes Verhalten zu vermeiden. Sie wird Menschen aber nur selten anleiten, ihre grundlegenden Haltungen und Werte im Einklang mit dem Agilen Manifest neu zu gestalten.

Bevor wir im positiven Sinne eine agile Mentalität trainieren können, müssen wir die Blockaden beseitigen, die aufgrund unserer vorausgegangenen kulturellen Konditionierung bestehen und ebendieses neue Lernen verhindern. Ohne zunächst reinen Tisch gemacht zu haben, werden wir wahrscheinlich beim Versuch agile Praktiken zu etablieren auf halbem Weg stecken bleiben. Schlimmer noch, wir behaupten womöglich, wir hätten festgestellt, dass agile Praktiken in unserem speziellen Umfeld einfach nicht funktionieren.

Menschen funktionieren in drei Kontrollmodi.

Unsere menschliche Befähigung zu komplexen, sozialen Beziehungen und Kreativität ist eine Funktion unseres Neokortex. Aufgrund seiner Entstehungsphase während der Evolution, wird der Neokortex auch als Säugetiergehirn bezeichnet. So lange er die Kontrolle ausübt, sind wir in der Lage im positiven Sinne agile Methoden einzuüben. Leider geraten viele von uns bei der täglichen Arbeit immer wieder in heftigen Stress; z.B. wenn unser Projekt wiederholt Meilensteine nicht einhält, das Budget überschreitet, oder anderweitig Zusagen nicht einzuhalten vermag.

In Situationen, die erheblichen Stress verursachten, überlebten unsere Vorfahren im Verlauf der Evolution dadurch, dass ihr Neokortex die Kontrolle an ihr sympathisches Nervensystem übergab. Dieses viel ältere Subsystem, das auch Reptiliengehirn genannt wird, reagiert sehr viel energischer und schneller als unser Neokortex. Da diese Kontrollübergabe das Überleben unserer Vorfahren so effektiv sichergestellt hat, ist sie auch bei uns noch in Kraft. Der entscheidende Nachteil des Reptiliengehirns ist ihre Beschränktheit, die sich am offensichtlichsten in Form des „Kampf oder Flucht“-Reflexes äußert. In weniger urzeitlicher Form mag sich dies dadurch zeigen, dass jemand, der sehr aufgeregt ist, nicht mit Details belästigt werden möchte und nur schnell zwischen sehr wenigen Alternativen wählen will.

Aber auch die Programme unseres Reptiliengehirns schaffen es unter Umständen nicht, eine uns bedrohende Situation aufzulösen. Dann übernimmt automatisch die phylo-genetisch primitivste Komponente, das Immobilisierungssystem, die Kontrolle. Noch älter als unser Reptiliengehirn, teilen wir es mit den meisten Wirbeltieren. Zur Anschaulichkeit und konsistenten Benennung, spreche ich bei diesem Subsystem vom „prä-amphibischen Gehirn“. Sein Programm ist das einfachste: „erstarren“ oder sich tot stellen. In weniger urzeitlicher Form mag es sich dadurch zeigen, dass jemand geistig resigniert und alle seine/ihre Energie aus einer Situation abzieht, oder sogar innerlich kündigt.

Physiologische Analogien zu den drei menschlichen Kontrollmodi.

Jeder der drei Kontrollmodi korreliert bei einer Person mit ihrem physiologischen Zustand. So spiegelt sie sich z.B. im Hautton, in der Stimmlage und im Blutdruck einer Person wider. Einfacher ausgedrückt: Die drei Modi entsprechen entspanntem gesellschaftlichem Miteinander, Ärger oder Furcht, und Deprimiertheit – wobei die meisten Menschen alle drei in der Regel leicht erkennen.

Evolutionäre Phase:Menschlich-säugetierischReptilischPrä-amphibisch
Typisches Verhalten:Sozial, kreativKampf oder FluchtErstarrung
Neuronales Äquivalent:Markscheidenhaltiger VagusSympathisches NervensystemMarkscheidenloser Vagus
Beispielhafte Spezies:

Wann können wir eine agile Mentalität nicht erreichen?

Das Säugetier-, das Reptilien- und das prä-amphische Gehirn erfüllen jeweils  wichtige Funktionen im menschlichen Leben. Probleme entstehen nur dann, wenn ihr Zusammenspiel aus dem Gleichgewicht gerät. Dies geschieht z.B. dann, wenn jemand chronisch ängstlich wird oder in einer niedergeschlagenen Stimmung steckenbleibt. Heutzutage, bringen viele Arbeitsumgebungen, die in ihrer Vergangenheit mittels Befehl und Gehorsam funktionierten, derartige Symptome hervor. Ihre Mitglieder sind zutiefst konditioniert, Beschämungen zu fürchten und Belohnungen oder sogar Macht über Andere zu begehren. Als Folge daraus übergeben in diesen Systemen noch immer viele menschlich-säugetierische Gehirne die Kontrolle an ihre entsprechenden reptilischen oder prä-amphibischen Gehirne für schmerzhaft lange Zeiträume.  Dies verträgt sich nicht mit einer agilen Mentalität, die von Menschen Vertrauen, Respekt, Engagement und Kreativität erfordert, und somit dass Menschen vollauf von ihren Säugetiergehirnen aus operieren.

Dummerweise können wir dieser misslichen Lage nicht alleine kraft unseres Neokortexes entkommen. Unser Säugetiergehirn vernünftig anzusprechen, mag zu Einsicht führen, nicht aber zu nachhaltigen Veränderungen unseres Verhaltens. Die Probleme, die eine agile Mentalität verhindern, spielen sich auf der Ebene des Reptilien- und prä-amphibischen Gehirns ab, wo und wenn der Neokortex nicht mehr richtig Kontrolle ausüben kann. Daher muss jeder effektive Lösungsansatz körperliche Elemente einbeziehen, die mächtig genug sind, die älteren autonomen Nervensysteme zu rekonditionieren.

Zwei Ansätze, um anti-agile Gewohnheiten zu verändern.

Grundsätzlich verändern wir unsere schlechten Gewohnheiten nur dadurch, dass wir uns andere, bessere Gewohnheiten antrainieren. Daher plädiere ich dafür, eine oder beide der folgenden Praktiken regelmäßig und häufig auszuüben.

Achtsamkeit

… und Meditation werden meist mit Entspannung assoziiert. Diese Einschätzung stimmt zwar, greift aber zu kurz, was ihr Potienzial bei der Lösung der hier angesprochenen Probleme angeht. Entspannung hilft uns, nicht so schnell mit Kampf- oder Flucht-Reflexen oder mit Erstarrung zu eskalieren. Darüber hinaus schafft die Übung der Achtsamkeit einen Abstand zwischen unseren Gefühlen und Wahrnehmungen einerseits und unseren Reaktionen auf sie andererseits. Je weniger achtsam oder bewußt wir gegenüber unseren Gefühlen und Wahrnehmungen sind, wie bei Stress, umso reflexhafter reagieren wir. Dies führt typischerweise zu suboptimalem Verhalten, wodurch wir kritische Situation weiter verschärfen.

Durch die Übung der Achtsamkeit erweitern wir den Umfang unserer Bewusstheit, so dass wir klarer sehen, was in und um uns vor sich geht. Gleichzeitig widerstehen wir leichter dem Drang, sofort unsere unmittelbaren Handlungsimpulse auszuagieren. So vergrößert Achtsamkeit unsere Freiheit zu reflektieren und ein angemessenes Vorgehen zu wählen, und auf kluge Weise kritische Situationen zu entschärfen. Damit unsere Säugetiergehirne möglichst umfassend die Kontrolle behalten, müssen wir unsere Reptilien- und prä-amphibischen Gehirne aber zunächst auf körperlicher Ebene durch konsequentes Üben rekonditionieren.

Emotionale Katas

Der Ausdruck „Kata“ stammt aus den Japanischen Kampfkünsten, wo er „choreographierte Bewegungsmuster“ bezeichnet, die auf allen Ebenen der Meisterschaft geübt werden. In diesem Sinne dienen Katas auch dazu, Gewohnheiten tief zu verankern; hier um bestimmte Bewegungsabläufe zu perfektionieren, die für das Überleben in der Schlacht entscheidend sind. Emotionale Katas machen sich den Umstand zunutze, dass Bewegungen und Gefühle stark gekoppelt sind. Bei der Ausführung einer solchen Kata nimmt der Übende zunächst eine bestimmte Haltung ein, um eines von drei Gefühlen stark zum Ausdruck zu bringen:
A) Wut,
B) Scham oder
C) Dissoziierung.
Z.B. in der Haltung der Wut spannt der Übende alle Muskeln an, höchst wachsam, mit geballten Fäusten, bereit anzugreifen. Gleichzeitig erinnert er sich an ein Erlebnis, das rasenden Wut in ihm weckt. Dann lässt der Übende alle Spannung los, streckt sich, öffnet die Fäuste, und atmet mit einem langen „No“ aus. Damit bringt der Übende zum Ausdruck, dass er entschlossen ist, auf Wut nicht mehr mit Gewalt zu reagieren, sondern frei die geschickteste Antwort zu wählen. In dieser offenen Haltung einen Augenblick verharrend, sagt er „Und jetzt?“ und reflektiert dann in Gelassenheit, wie er mit der Situation, die er gerade erinnerte, am besten umgehen würde.
Obiges Wut-Beispiel beschreibt, wie wir unsere Reaktionen auf Kampf-Impulse rekonditionieren können. Analog dazu dient die Emotionale Kata für Scham der Rekonditionierung unserer Flucht-Impulse. Schließlich zielt die Emotionale Kata für Dissoziierung dazu, die Wucht unserer Erstarrungsimpulse zu verringern.

Zusammenfassung

In diesem Artikel habe ich eine Erklärung dafür angeboten, warum die Einführung agiler Methoden noch so häufig fehlschlägt, obwohl sie schon seit Jahren im Mainstream angekommen sind. Ich argumentierte, dass es wenig nütze, an der Oberfläche agile Prozesse und Werkzeuge einzusetzen. Erst die tiefe Realisierung agiler Haltungen und Werte bringe die angestrebten Ergebnisse. Eine derartige kulturelle Transformation erfordere zunächst, die entgegenstehenden, älteren, kulturellen Konditionierungen zu überschreiben. Ich behauptete, dass eine derartige Rekonditionierung nicht alleine vom Verstand geleistet werden könne, sondern auch auf Ebene des Körpers stattfinden müsse. Deshalb habe ich dafür plädiert, dass wir uns neue Gewohnheiten zulegen: nämlich durch die Praxis von Achtsamkeit und Emotionalen Katas.

Demnächst erscheinende Blogartikel

Meine nächsten Blogartikel beschäftigen sich mit den Wertepaaren 2. und 4. des Agilen Manifests und v.a. der Bedeutung von Transparenz. In diesem Zusammenhang gehe ich auf unsere Neigung ein, vorzugsweise das wahrzunehmen, was unsere Sicht bestätigt (Confirmation Bias) und auf den Trend, zu diesem Zweck Wahrnehmungen zu verbiegen („alternative facts“).

Nach der Beschreibung typischer Hindernisse, möchte ich in späteren Artikel ausführen, wie man im positiven Sinne eine agile Mentalität aufbauen und vertiefen kann.

Quellenangabe

  1. Stephen W. Porges, PhD. The polyvagal theory: New insights into adaptive reactions of the autonomic nervous system . US National Library of Medicine.
  2. Levine PhD, Peter A.. In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness (S.134). North Atlantic Books.
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